Übernahme der IHRA-Definition in Schulen soll vermeintlich Antisemitismus bekämpfen...
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Übernahme der IHRA-Definition in Schulen soll vermeintlich Antisemitismus bekämpfen...

Sehr geehrte Mitglieder der Kultusministerkonferenz,

wir nehmen mit Sorge zur Kenntnis, dass Sie zusammen mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland die Verwendung der IHRA-Arbeitsdefinition zur Erkennung und Eindämmung von Antisemitismus an Schulen unterstützen.

Als jüdische Organisation, die sich für Menschenrechte einsetzt, warnen wir eindringlich davor, dass dieser Schritt zu mehr Antisemitismus und Rassismus im Bildungssystem führen wird und jüdischen und nichtjüdischen Kindern und Jugendlichen schadet. Er wird die Fähigkeit der Schüler:innen zum kritischen Denken gefährden – eine Fähigkeit, die essenziell ist, um jede Form von Rassismus zu beseitigen und demokratische Werte zu fördern – und sich dadurch negativ auf die Zukunft unserer Gesellschaft auswirken.

Erstens ist die IHRA-Definition unangemessen und schädlich, und wird sowohl von Wissenschaftler:innen als auch von Menschenrechtsexpert:innen umfassend angefochten. Diese Definition wird seit Jahren auf internationaler Ebene heftig kritisiert, unter anderem wegen der konzeptionellen und praktischen Fehler, Gefährdung der Meinungsfreiheit und der Instrumentalisierung von Antisemitismus für politische Zwecke. Dr. Peter Ullrich vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU-Berlin schreibt in einem Gutachten für die Rosa-Luxemburg-Stiftung:

Vor allem aufgrund ihrer handwerklichen Schwächen, ihrer defizitären Anwendungspraxis, ihres trotzdem teilweise verbindlichen rechtlichen Status und ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit mit )problematischen Implikationen für die Meinungsfreiheit kann die Nutzung der „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ nicht empfohlen werden.

Die IHRA-Arbeitsdefinition mit ihren Beispielen ist ein Ergebnis von politisch motivierten Verhandlungen, das akademischen und pädagogischen Ansprüchen nicht genügt. Selbst der Hauptautor der Definition, Kenneth Stern, warnt inzwischen vor ihrer Anwendung und betont, dass er sie nicht als Regelwerk zum Umgang mit Meinungsäußerungen etwa im Schul- oder Universitätsbetrieb konzipiert hatte, und dass gerade diese Verwendung nun mit gefährlichen Einschränkungen der Meinungsfreiheit einhergeht. Sie war – zumindest von Sterns Seite aus – für die Auswertung von Daten gemeint, nicht zur Beeinflussung politischer Äußerungen.

Kinder sollen in der Schule auch kritisches Denken und Argumentation vermittelt werden, und da wäre eine solche Maßregelung kontraproduktiv. Die Themen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung allgemein sind komplex, und fordern von uns als Individuen und als Gesellschaft persönliche, emotionale und intellektuelle Prozesse. Dies ist eine pädagogische Verantwortung von größter Bedeutung für alle Lehrer:innen und Politiker:innen. Lackmustests, Regelwerk, Verhaltenskodexe und politische Zensur sind einfachere Werkzeuge, aber sie werden das Ziel einer egalitären und gerechten Gesellschaft, frei von Antisemitismus und allen Formen von Rassismus, nicht näher bringen. Ganz im Gegenteil: In einer Gesellschaft mit oberflächlichen Regeln darüber, was zu sagen ist und was nicht, statt einer Ermutigung zu freiem Denken und kritischem Diskurs, entstehen Engstirnigkeit, Feigheit und ein Mangel an Solidarität.

Zweitens ist der Fokus auf Antisemitismus losgelöst von anderen Formen des Rassismus analytisch falsch und praktisch schädlich für die Sicherheit jüdischer und nichtjüdischer Kinder. In Schulen sind viele Kinder unterschiedlichster Herkunft mit verschiedenen Formen von Rassismus und Diskriminierung konfrontiert. Wir müssen Werkzeuge entwickeln, um mit verschiedenen Formen und Erfahrungen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit umzugehen und eine bessere Gesellschaft zu gestalten. Der einseitige Fokus auf Antisemitismus – getrennt von anderen Formen des Rassismus – kann aber Spaltung und Spannungen zwischen Minderheiten herbeiführen, statt sie zusammenzubringen. Es ist richtig, sich mit Antisemitismus zu befassen, aber es muss in einem breiteren Kontext geschehen, in dem jede Form von Rassismus in ihrer Spezifik und ihrer schädlichen Wirkung benannt wird, auch um die Lebensgeschichten aller Kinder anzuerkennen.

Schließlich stehen viele hervorragende Instrumente zur Verfügung, um Kinder kritisch in diese lebenswichtigen Themen einzubeziehen. Ein solches Instrument ist die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA). Mit der JDA ist in diesem Jahr ein Dokument erschienen, das von Wissenschaftler:innen in Bereichen wie Holocaustforschung und jüdischer Geschichte formuliert und von über 200 (größtenteils jüdischen) Gelehrten unterzeichnet wurde. Diese Erklärung benennt die Gefahren der IHRA-Arbeitsdefinition und ihrer Anwendung und verdeutlicht, wo antisemitische Sichtweisen gerade im Zusammenhang des Themas Israel-Palästina – das schließlich im IHRA-Dokument übermäßig im Fokus steht und somit Jüd:innen mit israelischer Politik verknüpft – tatsächlich vorkommen, und wo sie auf ungerechtfertigte Weise unterstellt werden.

Die Schaffung einer antirassistischen Gesellschaft erfordert kritisches Denken. Das kann kein einzelnes Werkzeug, keine Regelliste oder Definition erreichen, und die IHRA-Definition untergräbt dieses Ziel sogar. Das Prinzip, eine solche Definition überhaupt verbindlich einzuführen, ist zutiefst fragwürdig. Schließlich geschieht dies nicht etwa für antimuslimischen Rassismus oder Antiziganismus, die zusammen zahlreiche Menschen, einschließlich Kinder, in Deutschland betreffen. Diese ungleiche Behandlung ist auch darin zu beobachten, dass es auf Bundes- und Länderebene Antisemitismusbeauftragte gibt, aber keine vergleichbaren Ämter für andere Minderheiten. Diese ungleiche und „besondere“ Behandlung von Juden in Deutschland ist kein positives Phänomen, eher eine Absonderung der Juden von anderen sozialen Gruppen. Die einzige legitime Behandlung ist Gleichbehandlung. Der Kampf gegen Antisemitismus muss zusammen mit dem Kampf gegen ethnisch-religiöse Diskriminierung überhaupt geführt werden, nicht als Sonderangelegenheit behandelt werden.

Auch als Eltern jüdischer Schüler:innen appellieren wir an Sie, Ihre Entscheidung zu überdenken, um unsere Kinder nicht mit einem solchen Sonderstatus zu versehen. Wir plädieren dafür, andere Wege bei der Diskriminierungsbekämpfung zu gehen.

 

Der Vorstand

Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.