Offener Brief an die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland
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Offener Brief an die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland

Wer sich für eine gerechte Lösung des Konflikts einsetzt, muss in Deutschland damit rechnen, von jüdischen Gemeinden, von deutsch-israelischen Gesellschaften, vom Zentralrat der Juden in Deutschland wie auch vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung in eine Israel-feindliche Ecke gestellt zu werden. Dies gilt inzwischen sogar für Jüdinnen und Juden, die sich für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina einsetzen. Die Meinungsfreiheit in Deutschland wird damit erheblich beschädigt und bedroht.

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Berlin, 5. Juni 2019

Offener Brief an die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland

Wir schreiben diesen Offenen Brief, weil wir höchst beunruhigt und besorgt sind über die Folgen des Beschlusses des Bundestages vom 17.Mai 2019. Er bezeichnet unter der Überschrift „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten - Antisemitismus bekämpfen“ die Bewegung für Boykott, Investitionsentzug und Sanktionen als antisemitisch und ruft Länder, Städte und Gemeinden und alle öffentlichen Akteurinnen und Akteure dazu auf, die BDS- Bewegung ebenfalls als antisemitisch zu bewerten und sich den gegen sie beschlossenen Maßnahmen anzuschließen. Zu den angesprochenen öffentlichen Akteuren gehören auch die Kirchen, die sich vielfältig in Programmen, Initiativen und Veranstaltungen mit dem israelisch- palästinensischen Konflikt befassen und dabei auch mit der BDS- Bewegung in Kontakt kommen. Der Beschluss des Bundestages könnte dazu führen, ein für die ökumenische Zusammenarbeit wichtiges kirchliches Arbeitsfeld völlig zu lähmen. Aus diesem Grund halten wir eine Klärung von Seiten der Kirchenleitungen für dringend notwendig.

Wir erkennen ausdrücklich an, dass sich die Kirchen in den letzten Jahren zunehmend mit dem Problem der Judenfeindschaft und des Antisemitismus befasst haben. So etwa in einer Informationsbroschüre vom September 2017, die geprägt ist von der Sorge über einen neuen sich ausbreitenden Antisemitismus. Sie verschweigt nicht, dass Lehre und Praxis der Kirche durch die Jahrhunderte von Judenfeindschaft geprägt waren und so zu Hass und Vorurteilen gegenüber Juden und Jüdinnen beigetragen haben. Die Erschütterung und Scham über den millionenfachen Mord an den Juden Europas haben Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu einem Prozess der Umkehr im Verhältnis von Kirche und Judentum geführt und die Einsicht vertieft, dass Christen eine besondere Verantwortung für die Überwindung des Antisemitismus tragen.

Die BDS- Bewegung, die der Beschluss des Bundestages als antisemitisch beurteilt, wurde 2005 gegründet. Sie ist ein Zusammenschluss von über 170 Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft, die zu Boykott, Investitionsentzug und Sanktionen gegen Israel aufrufen, so lange, bis Israel internationalem Recht und den universellen Prinzipien der Menschenrechte nachkommt. Die BDS-Bewegung ist Ausdruck des gewaltlosen politischen Widerstandes gegen die andauernde Besetzung der palästinensischen Gebiete. BDS wird inzwischen international von Universitäten, Schulen, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt. Unter den Unterstützern sind auch zahlreiche Jüdinnen und Juden und jüdische Organisationen. Es gibt unter uns unterschiedliche Einschätzungen der Vorgehensweise der BDS-Bewegung. Wir gehören BDS nicht an und zählen nicht zu ihren aktiven Unterstützern. Ihre pauschale Verurteilung als antisemitisch weisen wir jedoch als ungerechtfertigt zurück.

Der Beschluss des Bundestages stützt sein Urteil vor allem auf den BDS-Aufruf zu weitgreifendem Boykott und Investitionsentzug gegen Israel. Wenn der Beschluss darüber hinaus nahelegt, der Boykottaufruf wecke „unweigerlich Assoziationen mit der NS-Parole ‚Kauft nicht bei Juden!‘, dann muss ihm entschieden widersprochen werden. Boykott-Bewegungen waren in der Geschichte oft gewaltfreie Widerstandshandlungen von unterlegenen Gruppen gegen die Vertreter der Macht, vom Kampf gegen die Sklaverei in Amerika, über den Salzboykott Gandhis in Indien bis zum Boykott gegen das Apartheidregime in Südafrika. Der gewalttätige NS-Boykott gegen jüdische Geschäfte und Unternehmen war das Gegenteil von humanitär begründeten Boykottbewegungen.

Seine Erwähnung in diesem Zusammenhang dient letztlich der Dämonisierung der BDS-Bewegung, die in sich vielgestaltig ist. Der tendenziöse Eindruck wird leider verstärkt, wenn der Beschluss des Bundestages fortfährt:: „Der Deutsche Bundestag verurteilt alle antisemitischen Äußerungen und Übergriffe, die als vermeintliche Kritik an der Politik des Staates Israel formuliert werden, tatsächlich aber Ausdruck des Hasses auf jüdische Menschen und ihre Religion sind, und wird ihnen entschlossen entgegentreten.“ Wir negieren nicht, dass es auch in einzelnen Mitgliedsorganisationen der BDS-Bewegung Personen und Gruppen geben kann, die antisemitisch agieren, aber die BDS-Bewegung als einzige Begründung für das Ziel „Antisemitismus bekämpfen“ auszugeben, wie dies der Deutsche Bundestag in seiner Entschließung tut, ist schlichtweg falsch. Warum der Beschluss des Bundestages ganz darauf verzichtet die Grenze zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus darzulegen, bleibt völlig unverständlich.

Die israelische Regierung führt seit 2011 eine gezielte politische Kampagne gegen die BDS-Bewegung, die 2015 vom Ministerpräsident Benjamin Netanyahu als „existentielle Bedrohung für Israel“ bezeichnet wurde. Die Kampagne wird vom Ministerium für strategische Angelegenheiten koordiniert. Sie bedient sich der diplomatischen Vertretungen Israels sowie jüdischer Gemeinden und Organisationen insbesondere in den USA, Großbritannien und Deutschland, um gegen die BDS-Bewegung vorzugehen. Im Zuge der Kampagne werden in Deutschland zunehmend Menschen als Antisemiten denunziert, die sich kritisch mit Israels Besatzungspolitik beschäftigen. Es gibt Aufrufe, Drohbriefe gegen Veranstaltungen in städtischen Räumen, an Universitäten, in Kirchengemeinden, wenn dort Vorträge und Diskussionen zum Konflikt Israel-Palästina annonciert werden.

Wer sich für eine gerechte Lösung des Konflikts einsetzt, muss in Deutschland damit rechnen, von jüdischen Gemeinden, von deutsch-israelischen Gesellschaften, vom Zentralrat der Juden in Deutschland wie auch vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung in eine Israel-feindliche Ecke gestellt zu werden. Dies gilt inzwischen sogar für Jüdinnen und Juden, die sich für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina einsetzen. Die Meinungsfreiheit in Deutschland wird damit erheblich beschädigt und bedroht.

Wir haben demgegenüber mit Hochachtung zur Kenntnis genommen, dass über sechzig jüdische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, mehrheitlich aus Israel, vor der Abstimmung im Bundestag einen Aufruf an die deutschen Parteien gerichtet haben, BDS nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen. Sie verweisen auf die erwähnte Kampagne der israelischen Regierung und stellen fest, sie sei „Teil der ständigen Bemühungen, jeden Diskurs über palästinensische Rechte und jede internationale Solidarität mit den Palästinensern, die unter militärischer Besatzung und schwerer Diskriminierung leiden, zu delegitimieren. Wir fordern Sie auf, Antisemitismus und alle Formen von Rassismus zu bekämpfen, ohne diese böswilligen Bemühungen zu unterstützen. Wir bitten Sie, die freie Meinungsäußerung und demokratische Räume in Deutschland zu schützen, anstatt diejenigen zu isolieren und zum Schweigen zu bringen, die ihre politischen Überzeugungen gewaltfrei zum Ausdruck bringen.“

Wir erinnern außerdem an Grundüberzeugungen der ökumenischen Bewegung, die sich in den mehr als 70 Jahren seit der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen herausgebildet haben und bekräftigt worden sind. Dazu gehört von Anfang an die Verurteilung von Antisemitismus als unvereinbar mit dem Bekenntnis und der Praxis des christlichen Glaubens und als Sünde gegenüber Gott und der Menschheit. Dazu gehört ferner die Bekräftigung des Existenzrechtes Israels sowie die Anerkennung des Rechtes der Palästinenser auf Selbstbestimmung und des völkerrechtlich verbrieften Rechtes der Geflüchteten und Vertriebenen auf Rückkehr. Kritik an der Politik der israelischen Regierung kann nicht einfach als antisemitisch oder anti-jüdisch disqualifiziert werden. Die Erklärung der Konferenz in Amman 2007, die das Ökumenische Forum für Palästina und Israel gründete, bekräftigte: u.a. „Die UN-Resolutionen müssen die Grundlage für den Frieden bilden und die Genfer Konventionen Anwendung finden, um die Rechte und Pflichten der betroffenen Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten. ... Eine Zwei-Staaten-Lösung muss politisch, geografisch, wirtschaftlich und sozial lebensfähig sein. … Die israelischen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten sind rechtswidrig und stellen ein Hindernis für den Frieden dar.“

Zehn Jahre später und im Gedenken an die seit 50 Jahren andauernde Besetzung der palästinensischen Gebiete überprüfte der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen in Trondheim 2017 die Positionen. Er forderte die Kirchen auf zur Förderung und Unterstützung aller gewaltfreien Initiativen zur Beendigung der Besatzung unter Einschluss von geeigneten wirtschaftlichen oder anderen Maßnahmen wie den Boykott von Waren aus den besetzten Gebieten und dem Rückzug von Investitionen in dort tätigen Unternehmen. Darüber hinaus äußerte er seine Besorgnis angesichts von parlamentarischen Vorstößen in verschiedenen Ländern mit dem Ziel, gewaltfreie Initiativen des Widerstandes gegen die rechtswidrige Besatzung zu unterdrücken oder zu kriminalisieren.

Unsere kritische Aufnahme des Bundestagsbeschlusses und seiner möglichen Auswirkungen auf das kirchlich-ökumenische Engagement für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina und für die Unterstützung von gewaltfreien Initiativen zur Beendigung der Besatzung veranlassen uns dazu, die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland dringlich zu bitten, im Einvernehmen mit den Landeskirchen Regeln für das Verhalten kirchlicher Träger angesichts der im Bundestagsbeschluss geforderten Maßnahmen unter Einschluss der Frage finanzieller Förderung von kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Initiativen zu formulieren. Darüber hinaus erwarten wir von der Leitung der EKD, dass sie mit dem Zentralrat der Juden sowie den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Gespräche eintritt, um negative Auswirkungen der gegen die BDS –Bewegung gerichteten Kampagne auf die christlich-jüdische Zusammenarbeit zu verhindern. Auch im Blick auf Auseinandersetzungen über Ziele und Methoden der BDS-Bewegung muss die Meinungsfreiheit und der Raum für kontroverse Diskussion in den Kirchen und Gemeinden verteidigt werden.

Unterzeichnet von:

Almuth Berger, Volkmar Deile, Heino Falcke, Jochen Garstecki, Heiko Lietz, Hans Misselwitz, Ruth Misselwitz, Elisabeth Raiser, Konrad Raiser, Gerhard Rein, Gudrun Rein, Andreas Zumach.