Jakob Augstein und der Antisemitismusvorwurf / Iris Hefets
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Jakob Augstein und der Antisemitismusvorwurf / Iris Hefets

Schmerzhafte Antisemitismuskeule
Von Iris Hefets

Das in Deutschland als »renommiert« geltende Simon-Wiesenthal-Zentrum nahm den Journalisten Jakob Augstein wegen seiner Kritik an Israel in ihre Antisemitismus-Hit-Parade auf. Verzweifelt wurde eine Erklärung dafür gesucht, wie das Zentrum ihn, den Elitesohn der deutschen Presse, auf diese Liste hat setzen können.


Das Zentrum definiert sich selbst als zu Israel stehend. Diese Staatstreue erklärt möglicherweise einen Teil seiner Aktivitäten. Es will ein »Museum für Toleranz« auf den Resten eines alten traditionsreichen Friedhofs für Muslime in Jerusalem errichten. Das verlangt in der Tat viel Toleranz – von den Muslimen. Das Zentrum verbreitete fälschlicherweise, dass Angehörige von Minoritäten in Iran – dem Erzfeind Israels – Anstecker tragen müssen, damit man sie von Muslimen unterscheiden könne.


Der Sinn der Antisemitismus-Rangliste bleibt indes unklar, es sei denn, man betrachtet sie als Ersatz für einen mittelalterlichen Pranger. Es hat viel Empörung ausgelöst, dass Augsteins Platzierung auch durch Hinweise Henryk M. Broders geschah. Bis vor kurzem aber bekam der Publizist noch viel Raum im »Spiegel«, machte in der ARD geschmacklosen Witze über das Essen in Dachau und nannte den abgeriegelten Gaza-Streifen, dessen Bewohner von Israel ein Minimum-Kalorien-Menü kalkuliert bekamen, im Vergleich zum Warschauer Ghetto geradezu als »Club Mediterrané«.


In der Sache Augstein kam Broder aber der deutschen Elite zu nah: Augstein bezeichnete den Gaza-Streifen als »Lager« – angeblich ein Beweis für seine antisemitische Einstellung. Wieder wird über das Nutzungsrecht an Wörtern gestritten. Während des israelischen Überfalls auf Gaza 2008/2009 wurde mir in einem ZDF-Interview das italienische Wort »Ghetto« verboten. Das aber wird alltäglich gebraucht, nämlich zur Bezeichnung einer Musikanlage (»Ghettoblaster«) in Ghettos von Afroamerikanern in den USA. Ansonsten ist das Wort historisch für Juden reserviert: Die Deutschen haben den Genozid an den Juden begangen und damit scheinbar das Monopol für den Begriff erworben.


»Lager« geht wegen der KZ auch nicht. Dann bleiben wir halt bei Broders »Club Med«.

Es gibt viele deutsche Bürger, die eine beeindruckende Aufarbeitung der Verbrechen ihrer Vorfahren geleistet haben. Sie könnten angemessene Kritik an der Politik Israels formulieren, würden sie nicht die pauschale Antisemitismuskeule fürchten. Durch sie haben Journalisten ihre Arbeit verloren. Viele meiner jüdischen und israelische Mitmenschen wurden bedroht, weil sie die israelische Besatzung verurteilen.


Statt mit Günther Grass oder Jakob Augstein zu diskutieren, kommt die Peitsche oder das Schweigen.

Um nicht als Antisemit gebrandmarkt zu werden, werden Zitate von Menschen jüdisch-israelischer Herkunft übernommen. Als ob es in Israel keinen Antisemitismus gäbe und ungeachtet davon, dass viele europäische Juden, die später nach Israel eingewandert sind, Antisemitismus in ihrem Denken und ihrer Sprache verinnerlicht haben. In den 1950er Jahren wurden in Israel die Schläfenlocken der jemenitischen Juden abgeschnitten, in den 1960er Jahren wurden jüdische Kinder aus Marokko entführt und in einem Kibbuz säkular umerzogen. Heute dürfen erkennbar aus arabischen Ländern und Äthiopien stammende Juden nicht in Diskotheken, und orthodoxe Juden werden öffentlich als »Parasiten« und als »arbeitsscheu« bezeichnet. Würde das in Deutschland passieren, käme die Antisemitismuskeule sofort zum Einsatz. Und das zu Recht.


Für mich ist Augsteins Beschreibung der orthodoxen Juden als das eigentliche Problem der israelischen Politik nicht akzeptabel. Er schreibt: »Aber die Juden haben ihre eigenen Fundamentalisten. Sie heißen nur anders: Ultraorthodoxe oder Haredim« – wissend, dass diese nur zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie gehen nicht zur Armee, weshalb sie an den Verbrechen der israelischen Besatzungsmacht eher als Mitläufer teilnehmen.  Auch die national-religiösen Juden, die zur Armee gehen und den harten Kern der Siedlungen in den besetzten Gebieten ausmachen, wurden von den Regierungen Israels dahin geschickt und bewaffnet, nicht von der kleinen Minderheit. Dass die Regierungen mit ihrer rechten Hand Palästina besetzen und zerstören, mit der linken aber die Schuld einer Minderheit zuweisen, ist ein alter Trick: Schon immer wurde den religiösen Juden, insbesondere den orthodoxen, die Rolle des Sündenbocks zugeschrieben. Das sind in der europäischen Geschichte die klassischen antisemitischen Bilder.


Es ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft, dafür zu sorgen, dass Minderheiten in ihr sicher leben können. Dafür müssen wir alle entschieden und souverän mit zum Teil rassistischen Äußerungen umgehen. Keiner von uns ist gegen die Verinnerlichung rassistischer Stereotypen geimpft. Die öffentliche Sphäre sollte ein Übungsplatz für den Umgang mit umstrittenen Meinungen sein. Stellen wir unsere Mitmenschen an den Pranger und peitschen sie öffentlich aus, bringen wir nur mehr an Demütigung, Scham und Aggression in das ohnehin gefährliche Spiel. Stellen wir unsere Mitmenschen an den Pranger und peitschen sie öffentlich aus, bringen wir nur mehr an Demütigung, Scham und Aggression in das ohnehin gefährliche Spiel.


 

Iris Hefets ist Psychotherapeutin und vor zehn Jahren von Israel nach Berlin ausgewandert. Sie ist Mitglied der Organisation »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«.


Aus: Neues Deutschland | Sonnabend/Sonntag, 2./3.