Martin Forberg: Wirkungsvoll lässt sich der Antisemitismus nur zusammen mit anderen Formen des Rassismus bekämpfen – oder: über den „Verdacht der arabischen Herkunft“
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Martin Forberg: Wirkungsvoll lässt sich der Antisemitismus nur zusammen mit anderen Formen des Rassismus bekämpfen – oder: über den „Verdacht der arabischen Herkunft“

 

Einige Gedanken aus Anlass der Kundgebung gegen Antisemitismus, die am 2.September in Berlin-Schöneberg stattfand

Eine Wiese hinter der evangelischen Nathanael-Kirche in Berlin-Schöneberg trägt den Namen „Grazer Platz“. Auf dieser Wiese sind am Sonntag, den 2.September viele Menschen zusammengeströmt – 1.300 bis 1.500, sagen die Veranstalter. Der Rundfunk Berlin Brandenburg spricht von „mehreren hundert“.

Eine beeindruckende Solidaritätskundgebung mit Rabbiner A. und seiner Tochter war es allemal – und zugleich eine kraftvolle Protestveranstaltung gegen Antisemitismus. Vier junge Männer haben den Rabbiner am Abend des 28.August in der Nähe seiner Wohnung in Schöneberg verprügelt, seiner siebenjährigen Tochter drohten die Täter den Tod an. Es war eine antijüdisch-rassistische, (also antisemitische) Tat, was immer die sonstigen Begleitumstände und Hintergründe gewesen sein mögen, denn Rabbiner A. wurde zunächst gefragt, ob er Jude sei und zusätzlich antisemitisch beschimpft.

Zum Abschluss der Kundgebung am Sonntag ergriff der Rabbiner selbst das Wort: sein Jochbein sei zwar gebrochen worden, nicht aber sein Wille, sich „für interreligiösen Dialog einzusetzen.“ Auf der Wiese sprachen unter anderen die Berliner Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration Dilek Kolat, Nachbarn der Opfer, der Pfarrer der Kirchengemeinde und die SPD-Bundesabgeordnete Mechthild Rawert. Sie betonte, dass die Hauptauseinandersetzung mit Rechtsradikalen geführt werden müsse. Am Ende der Veranstaltung wurde ein großes Transparent in der Nähe des Tatortes (der nur wenige hundert Meter vom Kundgebungsort entfernt war) aufgehängt mit der Aufschrift: "Wir sind gegen Gewalt und Antisemitismus".

Der Bezugspunkt Rassismus kommt zu kurz

Dennoch hat mir während der beeindruckenden Veranstaltung eine deutlichere Bezugnahme auf den Begriff „Rassismus“ gefehlt, auch wenn Dilek Kolat und Mechthild Rawert das Thema in ihren Reden angesprochen haben. Erstens gehören die Angriffe gegen Jüdinnen und Juden in Berlin und anderswo strukturell und faktisch zum großen gemeinsamen Übel des Rassismus. Dafür gibt es in Berlin ganz handfeste Beispiele: die Droh- und Schmähbriefe, die die jüdische und muslimische Gemeinden in den letzten Monaten gleichermaßen erhielten. Zweitens lässt sich der Rassismus in jeglicher Form weitaus besser bekämpfen, wenn alle seine Formen zugleich mit gemeint sind und dies auch sprachlich zum Ausdruck kommt. Dies gibt den zivilgesellschaftlichen Bewegungen mehr Gegenmacht. Es blendet drittens niemanden aus, der oder die von Rassismus bedroht ist – und das stärkt wiederum auch Punkt zwei.

Feindbilder im Schatten der Tat von Schöneberg

Noch ein zweiter Aspekt ist mir am Echo auf die Gewalttat von Schöneberg aufgefallen: in die Reaktionen mischen sich unterschwellig und behutsam, aber doch wahrnehmbar Negativbilder über andere Bevölkerungsgruppen. Ein Beispiel: einer der Redner auf der Wiese – dessen Name hier einmal nicht genannt sei – betonte, dass nur eine kleineMinderheit unter Muslimen antisemitisch handele. Das habe ich als positiv empfunden, weil ich diesen Redner schon wesentlich undifferenzierter erlebt habe. „Wir dürfen nicht pauschalisieren“, so betonte er. Aber dieses Pauschalisierungsverbot scheint für Menschen, die als Palästinenser markiert werden, nicht zu gelten. So führte der Redner aus, in Berlin gebe es „palästinensische Familien“, die Fernsehprogramme mit aufhetzendem Inhalt konsumierten. Was nicht ausgeführt wurde, aber wohl der Sinn dieser Bemerkungen war: diese Personen handelten dann antisemitisch. In jedem Fall wurde hier die als Palästinenser präsentierten Menschen als Problemgruppe dargestellt – nur für sie wurde überhaupt eine Nationalitätenbezeichnung verwendet. Die Problematik von Markierungen dieser Art (beispielsweise in Medienberichten) und der Bilder, die sie erzeugen, ist ja inzwischen auch in Deutschland bekannt. Auch die SPD Friedenau hat in den Aufruf zur Kundgebung – warum auch immer – hineingeschrieben, die Tat sei „von vier vermutlich arabischstämmigen Jugendlichen“ begangen worden. So als füge dies auch nur eine bedeutsame Information über die Tat hinzu, so als habe dies auch nur eine winzige Auswirkung auf die Mobilisierung zur Kundgebung. Aber es geht noch schlimmer: im Deutschlandfunk begann ein am Freitag, den 31.August gesendeter Beitrag über die Gewalttat gegen den Rabbiner und seine Tochter mit dem Satz: „Nach Angaben der Berliner Polizei stehen die Täter im Verdacht arabischer Herkunft zu sein.“ Die „arabische Herkunft“ wird hier also hier wie eine Straftat behandelt, denn üblicherweise wird der Begriff „Verdacht“ nur im Zusammenhang mit einem Verstoß gegen das Gesetz verwendet. Das ist natürlich eine Freudsche Fehlleistung, und es muss offen bleiben, ob sie von der Polizei stammt oder ein journalistisches Produkt ist. Interessant auch, dass dem Redakteur diese abstruse Formulierung nicht auffiel. Es scheint sich um ein tief sitzendes Bild zu handeln, demzufolge es eben „normal“ ist, das Arabisch-Sein verdächtig zu finden. Ähnlich, nicht ganz so krass, aber auch ziemlich extrem hieß es in der „Berliner Zeitung“ am selben Tag auf Seite 2, die Polizei ginge davon aus, dass die Täter „aus dem arabischen Milieu stammen.“ Was bitte ist ein „arabisches Milieu“? Die negativen Assoziationen des Wortes „Milieu“ sind offensichtlich; hinzu kommt das Pauschalurteil: „das arabische Milieu“ heißt es hier. Hat man schon einmal davon gehört, die Nazi- Terroristen der NSU stammten aus „dem weißen deutschen Milieu“, oder passender noch: „aus dem typischen weißen deutschen Milieu“? Es fällt auf, dass eine solche Zuordnung zu einer Nationalität gegenüber weißen Deutschen üblicherweise nicht geschieht - da sind es dann schlicht „Rechtsradikale“. Wobei Anetta Kahane, die Vorsitzende der Amadeu- Antonio-Stiftung, dies sprachlich sinnvoller handhabt: sie wird im gleichen Artikel mit der Bemerkung zitiert, dass subtilere Formen des Antisemitismus „eher von Deutschen“ kämen. Hier wäre zwar der Begriff „weiße Deutsche“ treffender gewesen, aber diese Begrifflichkeit ist eben hierzulande noch nicht richtig eingeführt. (Das kommt aber bestimmt noch). Anetta Kahane ist es auch, die in dem Artikel wenigstens mit Aussagen über den „Mainstream-Antisemitismus“ zitiert wird, sodass nicht nur immer von den Rändern der Gesellschaft die Rede ist.

Mit den Mitteln der Selbstzensur Rassismus bekämpfen?

Etwas weiter unten auf der Seite 2 der Berliner Zeitung beantwortet eine Historikerin vom Zentrum für Antisemitismus in Berlin Fragen. Manche Antworten bringen mich zu meinem dritten Kritikpunkt: zur Tragödie der selbst zensierten Sprache. Die Historikerin stellt immerhin klar, dass 90 % der antisemitischen Taten „aus dem rechtsextremen Spektrum kommen“. Sie spricht zugleich über einen „relativ weit verbreiteten Antisemitismus unter türkisch-arabischen Jugendlichen, der sich aus dem Nahostkonflikt nährt“ (nebenbei ist es interessant, dass hier die Kombination „türkisch-arabisch“ als Identität von außen erfunden wird - soviel noch einmal zum Thema „Bilder“).

Aber wie nährt sich da was? „Wir haben zum Beispiel in Berlin eine große

palästinensische Community, die Kontakte zu Verwandten in den besetzten Gebieten hat.“ Punkt. Der nächste Satz lautet nun n i c h t etwa: „Und diese Verwandten bekommen natürlich die Politik des israelischen Staates und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen täglich mit.“ Ginge es um China, Iran, die Türkei oder Saudi-Arabien, dann wäre diese oder eine ähnliche Aussage selbstverständlich. Hier aber geht die Antwort der Historikerin so weiter: „Meist sind es anti-israelische Stereotype, die sehr schnell unterfüttert werden mit klassischen antisemitischen Vorurteilen.“ Keine Frage, das kann zusätzlich auch der Fall sein, aber die schlichte Tatsache, dass nicht nur ein geheimnisvoll-unerklärlicher „Nahostkonflikt“, sondern der „brutale Rassismus“ der israelischen Regierung hier eine wichtige Rolle spielen, wird nicht ausgesprochen.

Es mag auch diese Unklarheit und Verkrampftheit sein, die den Antisemitismus eher fördert als eindämmt. Ach übrigens: der Begriff „brutaler Rassismus“ oben steht nicht deshalb in Anführungszeichen, weil ich selbst eine sprachliche Flucht antreten wollte. Der brutale Rassismus des israelischen Staates existiert auch ohne Strichelchen vorne und hinten ganz klipp und klar. Aber hier habe ich ein Zitat verwendet, denn es war der Sprecher des israelischen Außenministeriums, der die Gewalttat von Schöneberg als brutalen Rassismus bezeichnete.

Da hat er Recht (und hat sogar Antisemitismus richtig als Teil von Rassismus betrachtet, siehe oben). Aber zugleich kann die israelische Regierung so vom eigenen schweren Unrecht ablenken.

Nur wenn Jüdinnen und Juden überall in aller Welt sicher leben können, verliert die israelische Regierung mit ihrer Politik gegen die Menschenrechte der Palästinenser an Einfluss

Die Tat von Schöneberg konnte von der israelischen Regierung benutzt werden. Auch deshalb sollten sich die Täter so schnell wie möglich stellen, wenn ihr furchtbares Handeln tatsächlich eine (vollkommen illegitime) Reaktion auf israelische Politik sein sollte – was bislang eine Spekulation bleiben muss. (Natürlich sollten sie sich auch sonst stellen). Denjenigen, die auf die israelische Kolonialpolitik und den alltäglichen Rassismus gegenüber Palästinensern mit Hass auf Juden reagieren wollen, sei nicht nur gesagt, dass sie damit Unrecht tun. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Sondern auch, dass sie damit die bestehende israelische Politik stärken. Nur wenn Jüdinnen und Juden in aller Welt sicher leben können, verliert die israelische Regierung mit ihrer Politik gegen die Menschenrechte der Palästinenser an Einfluss. Es gibt legitime, gewaltlose Wege, die weltweit solidarisch von Palästinensern und ihren Unterstützern, unter ihnen auch viele Juden, gegangen werden. Zum Beispiel hat die palästinensische Zivilgesellschaft (darunter Gewerkschaften, Parteien und Menschenrechtsorganisationen) dazu aufgerufen, ähnlich wie vor Jahrzehnten auf das Apartheidregime in Südafrika heute auf Israel wirtschaftlichen Druck auszuüben. Das ist ein Weg, der schon jetzt viele Erfolge gebracht hat, diejenigen tief beunruhigt, die für die Unterdrückung der Palästinenser die Verantwortung tragen und über kurz oder lang zu einer Änderung ihrer Politik, zu einer Verwirklichung gleicher Rechte in Israel/Palästina führen kann.